«Chicken Kiev», Hühnerbrust, mit Kräutern und Butter gefüllt, paniert und gebraten – ein Rezept zu Peter Polters Episoda 150312 Kiew Lesi Ukrainky Square
hoio.infoIn den späten 1970er Jahren war es in der Schweiz üblich, noch brauchbare Dinge, für die man selbst keine Verwendung mehr hatte, einfach an bestimmten Wochentagen auf die Strasse hinaus zu stellen. Dort wurden sie von gierigen Sperrgut-Jägern gefunden – oder irgendwann von der Müllverwaltung abgeholt. Möbel, Haushaltsgeräte, Bücher, Schallplatten, Kleider – man fand auf den Trottoirs viel, was das Herz bis dahin meist nicht begehrt hatte und folglich ganz neu für sich entdecken konnte. Eines Abends spürte ich in einer Kiste mit Büchern ein Set von Karten auf, die auf der einen Seite mit dem farbigen Bild einer Speise, auf der anderen mit einem Rezept bedruckt waren. Die Texte waren auf Englisch – ich konnte sie also zwar lesen (ich war damals etwa zehn Jahre alt), aber nicht verstehen. Doch was mich vor allem faszinierte, waren ohnehin die Bilder – es waren opulente Inszenierungen von durchgehend unglaublich feierlich wirkenden Speisen. Solche Bilder waren mir neu, denn Kochbücher kamen damals noch meist ohne Fotografien aus – die etwas älteren Werke in meinem Elternhaus auf jeden Fall. Und natürlich sah das Essen, das ich aus unserem Alltag kannte, nie und nimmer so prachtvoll und so lecker aus wie auf diesen Karten.
Auf einem Bild, das sich meiner Erinnerung ganz besonders tief eingeprägt hat, gab es ein Stück goldenes Fleisch zu sehen, das eine Krone trug und auf einem silbernen Teller vor einem Himmel aus lauter grünlich schimmernden Zwiebeltürmen in der Luft zu schweben schien: «Chicken Kiev». Der rundliche Schnitzel-Prinz mit seiner Krone kam mir wie eine Inkarnation all der Vorstellungen vor, die ich mir aufgrund von Darstellungen in Kinderbüchern vom Russland der Zaren und seinem luxuriösen Alltag machte.
Ein oder zwei Jahre nach dem Fund, die Karten hatte ich unterdessen längst gegen eine Schallplatte oder eine Flasche Cola eingetauscht, erlebte das «Chicken» eine Art Epiphanie in einem Konzert mit den «Bildern einer Ausstellung» von Modest Mussorgsky. Als das Orchester das «Grosse Tor zu Kiew» intonierte, da war mir etwa ab der 40. Sekunde, beim ersten Kesselschlag, als erscheine über den Köpfen der heftig arbeitenden Musiker plötzlich ein golden leuchtendes Schnitzel mit Krone, einer strahlenden Madonnenfigur gleich schwebte es über den Violinen und Violas, Fagotten und Flöten, Posaunen und Pauken. So eindrücklich diese Erscheinung war – das «Chicken Kiev» entflatterte meinem Leben dann doch für viele Jahre. Ich lernte andere Speisen kennen, die mir so viel Aufregung boten, dass ich keinen Anlass hatte, an das gekrönte Hühnchen zurückzudenken – ausserdem wurde es zur Norm, dass Kochbücher auch grossartige Inszenierungen der vorgestellten Rezepte präsentieren.
Das «Chicken Kiev» kam mir erst wieder in den Sinn als im Winter 2015 die Gelegenheit bekam, erstmals in meinem Leben in die Ukraine zu fahren und die Stadt Kiew zu besuchen. Auf dem Hinflug beschäftigte mich auf ein Mal die Frage, ob ich wohl in der Stadt ein Restaurant finden würde, in dem es «Chicken Kiev» zu essen gab. Selbstverständlich schien mir das nicht, denn schliesslich hat der Hamburger ja auch nichts mit Hamburg zu tun, das Wiener-Würstchen nichts mit Wien, und welcher Berliner weiss schon, was ein Berliner ist – und welche Konfitüre da hinein gehört. Als ich im ersten Restaurant, das ich in Kiew besuchte, Котлета по-київськи alias «Chicken Kiev» auf der Karte fand, war ich fast ein wenig überrascht. Natürlich musste ich es bestellen, denn gegessen hatte ich das Hühnchen bis dahin noch nie – bei meiner frühen Begegnung mit ihm stand ja auch seine majestätische Erscheinung im Vordergrund, nicht seine kulinarische Qualität.
Was mir im «Pervak» serviert wurde, hatte durchaus etwas mit dem Bild in meiner Erinnerung zu tun – ein rundes, in Panade gehülltes und goldbraun gebackenes Schnitzel mit einem Krönchen. Als ich es aufschnitt, floss mir zu meiner Überraschung wohl ein Deziliter geschmolzene Butter entgegen und verteilte sich zu einem kleinen See auf meinem Teller. Im Fleisch blieb ein Loch mit ein paar wenigen Kräutern zurück. Auch mein zweites «Chicken Kiev» im Restaurant «Spotykach» war ähnlich – nur hatte der Koch hier versucht, Kräuter und Butter mit Hilfe von Käse so zu verdicken, dass nicht gleich alles aus dem Fleisch herausfloss. Bei beiden Versionen überraschte es mich, dass ein Hühnerschnitzel, das doch fast immer ganz trocken schmeckt, hier trotz der offenbar ziemlich langen Bratzeit angenehm feucht war und – im Rahmen des einem Hühnerschnitzel möglichen – auch durchaus Aroma hatte.
Die Geschichte des «Chicken Kiev» ist einigermassen unübersichtlich. Ganz offenbar war es zumindest in den sechziger bis achtziger Jahren ein Standard auf der Karte der Intourist-Hotels und Restaurants in der ganzen Sowjetunion. Lesley Chamberlain schreibt in ihrem Standardwerk «The Food and Cooking of Russia» (S. 151): «This is a Soviet hotel and restaurant classic which has no prerevolutionary history as far as I have been able to discover.» Marian Burros indes zitiert in ihrem Artikel «Fare of the country – Further Tribulations of the Chicken From Kiev» («New York Times», 14. August 1988) einen ukrainischen Restaurateur namens Christenco Vitali, Direktor des Restaurants im Hotel «Dniepro» in Kiev, dessen Aussage zufolge das Rezept 1819 von einem Koch aus Kiew erfunden und erstmals in Moskau zubereitet wurde. «The Russian Tea Room Cookbook» (S. 74) von Faith Stewart-Gordon und Nika Hazelton wiederum nennt Chicken Kiev das «most famous an best known of all Russian dishes», räumt jedoch ein, seine «Kievian origins are obscure and it seems most likely that Chicken Kiev was a creation of the great French chef Carême at the Court of Alexander I.» Helen und George Papashvily («Die Küche Russlands», S. 136) beschreiben es bloss als «one of the great classic Soviet dishes that has achieved international fame» – ohne sich auf Hyothesen zu seinen Ursprüngen einzulassen.
Das «Chicken Kiev» war jedoch auch im Westen weit verbreitet – es passt ja auch gut zu den Vorstellungen einer luxuriösen Küche, wie man sie sich in den sechziger und siebziger Jahren machte. Kein Wunder also, kommt es auch in der kultigen Fernsehserie «Mad Man» zu Ehren, die ja im New York der 1960er Jahre spielt. «They have Chicken Kiev», sagt da Roger zu Don: «The butter squirts everywhere.» Laut Felicity Cloake («How to cook the perfect chicken kiev», «The Guardian», 7. Juni 2012) war «Chicken Kiev» das erste gefrorene Fertiggericht im Angebot der Supermarktkette «Marks & Spencer». Heute wird «Chicken Kiev» im Westen nur noch selten angeboten – die viele Butter, die da zum Einsatz kommt, verträgt sich nicht gut mit den gegenwärtigen Vorstellungen einer gesunden Diät.
Doch das «Chicken Kiev» hat seine Meriten – vor allem weil es einem Stück Fleisch, das meistens sehr trockenen auf den Tisch kommt, eine schöne Saftigkeit gibt. Die Tradition sieht vor, dass nur Butter ins Fleisch gepackt wird, ohne jede Würze. Der sintflutartige Ausfluss der Butter beim Aufschneiden des Stückes stellt zwar eine hübsche Überraschung dar, aromatisch aber ist das Gericht so auf den Geschmack der geschmolzenen Butter beschränkt. Das räumen sogar die Papashvilis (S. 136) ein, die sonst viel auf Tradition halten, und sie schlagen eine stärker gewürzte Version vor: «Weniger traditionell sind die […] zusätzlichen Gewürze, die einem zwar typischen, aber ansonsten nüchternen Gericht eine interessante Note verleihen.»
Heutige Rezepte füllen das Chicken Kiev mit allen möglichen Dingen, oft mit Käse oder auch mit Speck (zum Beispiel Jamie Oliver in «Comfort Food», S. 52). Wir haben uns nach einigen Versuchen in eine Füllung verliebt, die zur Hauptsache aus Dill besteht und nur wenig Butter benötigt – wer seine Gäste damit überraschen will, dass «Butter überall herumspritzt», kehrt die Verhältnisse einfach um.
Das kleine Knöchelchen (ein Stück vom Flügelknochen), das traditionell aus dem einen Ende des «Chicken Kiev» ragt, muss man als eine typische Idee der sechziger Jahre ansehen. Es macht aus der Fleischrolle ein kleines Keulchen, das man theoretisch wie einen Hühnerschenkel in die Hand nehmen könnte – praktisch hat der Knochen dafür viel zu wenig Halt. Wir haben in unserem Rezept von diesem Knöchelchen abgesehen – im Gegenzug setzen wir dem fertigen «Chicken Kiev» gerne eine Krone aus Papier auf, was dem Stück sofort einen Sechzigerjahre-Look verleiht.
Heutige Rezepte verzichten auch oft darauf, die Hühnchenbrust flach zu klopfen – und füllen die Butter statt dessen in ein Schnittloch im Fleisch (ebenfalls Jamie Oliver). Wir haben beides ausprobiert und sind zum Schluss gekommen, dass das Flachklopfen zu den besseren Ergebnissen führt. «Chicken Kiev» wird frittiert – aber wenn man keine gute Fritteuse hat, dann wird das Frittieren schnell zu einer sehr fettigen Angelegenheit. Wir verzichten also darauf und braten das Fleisch stattdessen in etwas Öl an, um es dann im Ofen fertig zu garen. Das Resultat ist weniger schön, denn beim Frittieren wird die Oberfläche überall gleichermassen braun und knusprig – im Gegenzug ist das Stück auch deutlich weniger fettig.
Unser «Chicken Kiev» hat eine knusprige Hülle. Das Fleisch ist saftig, die Füllung schmeckt leicht nach Butter und markant nach den Kräutern, süsslich, leicht ätherisch mit Anklängen von Fichtenwald, Wiesenkümmel und Fenchelkraut. Wir servieren zu dem «Chicken Kiev» Buchweizen mit getrockneten Steinpilzen, wie es uns – auf Wunsch – auch im Restaurant «Spotykach» vorgesetzt wurde.
Kühlzeiten 2½ Stunden
Kochzeit 15 Minuten
30 g Butter
1 kleiner Bund Dill (20 g), fein gehackt
½ kleiner Bund Petersilie (10 g), fein gehackt
2 Zehen Knoblauch, gepresst
1 knapper TL Salz für die Butter
1 knapper TL schwarzer Pfeffer für die Butter
4 halbe Bruststücke vom Huhn (je etwa 120 g), gehäutet
6 EL Mehl
2 Eier
1 knapper TL Salz für die Eier
1 knapper TL schwarzer Pfeffer für die Eier
6 EL Paniermehl
2 EL Butterschmalz oder Rapsöl
First Publication: 20-5-2015
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