Geschichte. Man weiss nicht, woher der Anis stammt – denn es ist kein wilder Vorläufer der Kulturpflanze bekannt. Laut Hansjörg Küster («Kulturgeschichte der Gewürze» , S. 139) sprechen alle Indizien dafür, «die Heimat des Anis im östlichen Mittelmeergebiet zu suchen. Will man sein Herkunftsgebiet noch näher eingrenzen, so kommen wohl am ehesten Griechenland und/oder die Inseln der Ägäis dafür in Frage, dagegen nicht, wie man heute weiss, Ägypten, das nach Ansicht antiker Autoren das Herkunftsland der Pflanze sein sollte.» Anis könnte in Griechenland schon während des zweiten vorchristlichen Jahrtausends verwendet worden sein, wie archäologische Funde nahelegen. Küster weiss, dass «Anis seit dieser frühen Zeit immer eine wichtige Heilpflanze gewesen ist. In der Antike war Anis ein Bestandteil des weit über Griechenlands Grenzen hinaus bekannten Theriak, eines Wundertrankes, der gegen nahezu alle Krankheiten half.» Auch in römischer Zeit und im Mittelalter war Anis beliebt – als Gewürz wie auch als Arzneimittel mit verdauungsfördernden Eigenschaften.
Pflanze. Anis (Pimpinella anisum, engl. anise, aniseed; franz. anis, anis vert; span. anís, anís verde, matalahúva; ital. anice, anice verde) gehört zur Familie der Apiaceae (Doldenblütengewächse). Das einjährige Kraut kann bis 100 cm hoch wachsen und hat vielgestaltige Blätter. In Bodennähe sind sie gross und rund oder eiförmig und gezahnt. Weiter oben zerfallen sie in mehrere Abschnitte und die obersten Blätter sind fein gefiedert. Die kleinen weissen Blüten erscheinen in verschieden grossen Dolden und entwickeln sich zu länglichen Spaltfrüchten. Laut Gernot Katzer und Jonas Fansa («Picantissimo» , S. 13) benötigt Anis gemässigtes oder subtropisches Klima mit mässigem Niederschlag und mindestens 120 frostfreien Tagen. Die Ernte ist nicht ganz einfach, wie Katzer und Fansa wissen: «Einerseits sollen die Früchte möglichst reif geerntet werden, andererseits reifen sie ungleichmässig und fallen bei Vollreife von der Pflanze ab. In Ländern mit geringen Arbeitskosten erntet man daher oft zweimal: Zunächst werden die grossen reifen Hauptdolden mit der Hand geschnitten, ohne die Pflanze zu zerstören, und ein bis zwei Wochen später wird das Feld vollständig abgemäht und der Schnitt ausgedroschen. In den meisten Anbaugebieten wird jedoch nur einmal geerntet, nämlich bei Vollreife der Hauptdolde; in Industrieländern kommen dabei auch Mähdrescher zum Einsatz. Man kann mit einem Ertrag von etwa einer Tonne Anisfrüchte je Hektar rechnen.» Anis wird heute vor allem in Europa sowie dem Mittleren Osten angebaut, bescheidener auch in Nordafrika und Mittelamerika. Auf Santa Lemusa wird Anis fast nur in der Gegend von Angeval kultiviert– und zwar in Küstennähe, wo es viel seltener regnet als weiter im Innern des Landes.
Anis verströmt einen süsslichen Duft mit sommerlich-blumigen Noten, der zugleich sehr schwer und ganz leicht wirkt. Die Ähnlichkeit zum Sternanis steht im Vordergrund. Es kommen uns aber auch Süssholz, Safran, Fenchel und Gewürznelke in den Sinn – oder Kleider, die lange in einem hölzernen Schrank gehangen haben. Auch eine Ahnung von Vanille kann auftauchen – oder ein Hauch von feucht verwelkten Schnittblumen. Der Mund erlebt zuerst einen kleinen Schock, etwas Heftiges, Gefährliches – nach kürzester Zeit aber macht sich eine zuckrige und aromatische Süsse breit. Mit dem Kauen lösen sich alle möglichen Aromen aus den Samen – Blumiges ebenso wie Brotiges oder auf helle Weise Fleischiges. Manchmal huscht auch eine Ahnung von Kreuzkümmel vorbei – ebenso machen sich muffige Noten bemerkbar.
Laut Thomas Vierich und Thomas Vilgis («Aroma», Kapitel Anis) ist Anethol das Schlüsselaroma in Anis – es ist auch in Sternanis, Fenchel, Lakritze, Erdbeeren und Himbeeren enthalten. Laut Vierich und Vilgis beinhalten frisch gemahlene Anissamen das ganze Spektrum von Aromen (blumig, aromatisch, anisartig). Beim Rösten mit Temperaturen von 50º bis 90º intensiviert sich vor allem das Hauptaroma Anethol weil die leichter flüchtigen, blumig-süsslichen Aromastoffe entweichen. Bei höheren Temperaturen oder längerem Rösten wird der Anis leicht bitter und entwickelt dunklere Düfte, Röstnoten. Über die Verwandtschaft von Anis, Fenchel und Sternanis schreiben Vierich und Vilgis: «Durch das in allen drei Gewürzen vorkommende Anethol verstärken und intensivieren sie sich gegenseitig. Ebenso gut können sie einander aber auch ersetzen. Wenn in manchen indischen oder fernöstlichen Rezepten von Anis die Rede ist, sind meistens die botanisch verwandten und ähnlich schmeckenden Fenchelfrüchte gemeint. Im Vergleich zu Fenchelfrüchten mutet Anis etwas weicher an, man könnte auch sagen: edler. Der beste Ersatz für Anis ist Sternanis: Obwohl botanisch nicht verwandt, ist der aromatische Unterschied marginal.»
Als Küchengewürz ist der Anis von eher sekundärer Bedeutung, wie zum Beispiel Tom Stobart «Lexikon der Gewürze», S. 30 schreibt: «Seine Hauptbedeutung hat er wohl in der Alkoholindustrie, wo er bei der Herstellung verschiedener Liköre und Aperitifs Verwendung findet. Um das Aroma zu extrahieren, wird der Anis entweder in Alkohol mazeriert oder der Same im Dampf destilliert, wobei Anisöl entsteht. Die meisten Mittelmeerländer haben wenigstens ein Anisgetränk, und das basiert meist nicht nur auf Anis, sondern auch auf Fenchel und Sternanis.» Vierich und Vilgis erklären, warum sich alle alkoholischen Anisgetränke (wie Pastis, Rakı, Ouzo oder Absinth) bei der Zugabe von Wasser trüben: «Das nur in Alkohol lösliche Anethol ist dafür verantwortlich […] 45 Volumenprozent reichen aus, damit jedes Anetholmolekül einzeln im Glas schwimmt, jeweils umgeben von einer Hülle aus Alkoholmolekülen. Gibt man Wasser hinzu, sinkt der prozentuale Anteil des Alkohols am Gesamtvolumen, einzelne Anetholmoleküle können sich jetzt zu grösseren Tröpfchen zusammenlagern. An diesen wird das Licht gestreut: Die Flüssigkeit trübt sich und der Aperitif erhält sein klassisch milchiges Aussehen.» Anis wird aber auch verschiedenen Backwaren beigesetzt, würzt Süsswaren, Fleisch- und Fischgerichte (wie etwa die berühmte Bouillabaisse). Vierich und Vilgis empfehlen, auch einmal geröstete Leber oder Leberpastete mit Anis zu würzen: «Die in diesem Fleisch zu findende leichte Süsse fügt sich bestens mit Anis zusammen.»
Auf Santa Lemusa werden bis heute keine Anis-Schnäpse gebraut – dafür wird das Gewürz in der Küche recht vielfältig eingesetzt. Auf der ganzen Insel berühmt ist Herenleber – eine Paste aus gehackter Hühnerleber, die mit Anis und Dill aromatisiert ist.
Auf den Klippen von Angeval in Nordwesten der Insel wurde früher schon Anis angebaut – diesen Schluss legt die Geschichte der Hexe Anga nahe, die aus dem Gewürz einen Zaubertrank braute. 2002 hat die Gärtnerin Adriana Conté den Anis in das Dorf zurückgebracht und eine eigene, besonders feinaromatische Sorte gezüchtet, die heute von dem kleinen Unternehmen Anise Anga produziert wird. «Désir de Tikk» wird von HOIO exklusiv nach Europa importiert.
First Publication: 4-5-2016
Modifications: