Der Verzehr eines blutigen Steaks ist implizit mit der Vorstellung verknüpft, dass sich etwas von der enormen Kraft des Tiers auf den Esser überträgt. Das hat uns schon Roland Barthes in seinen «Mythologies» erklärt. Umgekehrt hat der Konsum eines Rindersteaks immer auch etwas von einem Sakrileg, weshalb er mit vielen Ritualen («Versiegeln der Poren») verknüpft ist und vorsichtshalber gern im Rahmen von Zeremonien («Grillpartys») oder in speziellen Tempeln («Steakhäusern») begangen wird.
Das schiere Gegenteil des Rindersteaks ist ein Stück Fleisch, das sich ähnlicher Beliebtheit erfreut und in den Industrieländern sogar noch häufiger verzehrt wird: die Brust vom Huhn. In der Schweiz zumindest macht schon der gebräuchliche Name dieses Stücks einiges deutlich: Im «Steak» hört unser Ohr auch Worte wie «stecken», «stechen», «stehlen» mit – Aggressionen, nach denen man im «Pouletbrüschtli» vergeblich sucht. Ja das P-Wort hat, bei wiederholter Aussprache, sogar etwas ganz leicht Lächerliches, fast könnte ein menschlicher Makel damit beschrieben sein. Tatsächlich bezeichnet «Hühnerbrust» im Volksmund ja auch eine Deformation des Brustbeins, welche die Medizin unter dem Namen Pectus carinatum kennt.
Gibt es ein anders Stück Fleisch, das so frei von Schuldgefühlen verzehrt werden kann wie ein Hühnerbrüstchen? Natürlich wissen wir, theoretisch zumindest, dass auch diese Brustfilets von einem Tier stammen, das sein Leben für unseren Genuss gelassen hat. Aber wie oft hört man Sätze wie: «Also ich esse im Grunde kein Fleisch, höchstens einmal ein kleines Hühnerbrüstchen» – können wir daraus nicht den Schluss ziehen, dass das Hühnerbrüstchen «im Grunde» eben doch kein Fleisch ist? In den USA und Grossbritannien (aber zweifellos nicht nur dort) soll es immer mehr Kinder geben, die überzeugt sind, das weisse Filet in ihrem Chicken-Sandwich wachse auf Bäumen oder werde wie Käse in Fabriken hergestellt. Völlig abwegig ist der Gedanke nicht. Warum ein Huhn Fleisch an seinen Beinen hat, versteht man sofort. Für Laien aber ist nur schwer nachzuvollziehen, weshalb das Tier einen derart grossen Muskel an seiner Brust ausbildet. Wozu ist er gut? Was macht es damit? Liegt die Idee da nicht nahe, dass das Brüstchen ja vielleicht am Hühnchen wächst – geradeso wie der Apfel am Baum? Sieht man sich das Angebot in unseren Supermärkten an, so könnte man zu ähnlichen Schlüssen kommen. Natürlich werden auch vom Kalb oder Rind fast nur die edelsten Stücke verkauft, aber beim Anblick der endlosen Reihen von sauber vakuumierten Brustfilets kann man sich schon fragen, was denn mit dem Rest der zahllosen Hühner geschieht.
Aus diätmedizinischer Sicht ist das Brustfilet vom Huhn praktisch das einzige Fleisch, dem nicht regelmässig die rote Karte gezeigt wird – kein Wunder, denn es ist sehr fettarm und erhöht den Cholesterinspiegel nicht. Ausserdem ist so ein Brüstchen gewissermassen eine «natürliche» Portion – was dem Konsumenten einige Entscheidungen erspart. Vielleicht ist das Brüstchen deshalb bei ernährungsbewussten Singles besonders beliebt – wobei manche dazu neigen, jeweils zwei Stück zu kaufen, um so das Grinsen auf dem Gesicht des Metzgers oder der Kassiererin zu umgehen.
Auch für das Auge gibt die Königin im Reich der Diäten ein schieres Bild der Unschuld ab. In rohem Zustand hat das Stück eine reine, je nach Fütterung und Haltung mehr oder weniger weissliche, gelbliche oder rosarote Farbe. Dazu ein glattes, kaum strukturiertes Gewebe, in dem sich so gut wie gar nie Sehnen oder Fettstränge finden – und auch blutige Äderchen kommen nur selten vor. Ein «Fleisch ohne jeden Todesschatten», hat es Deon Godet genannt. In gegartem Zustand ist die Brust schneeweiss oder je nach Zubereitung höchstens ganz leicht gräulich oder gelblich. Sie hat nun eine glatte bis leicht granulöse Konsistenz, ist leicht gummiartig und doch einfach zu kauen – ohne allzu weich zu sein.
Meist liest man, das Brustfilet habe kaum Eigengeschmack und eigne sich deshalb vor allem gut für würzige Zubereitungen. Ein anständig produziertes Hühnerbrüstchen aber kann mehr, wenn man ihm denn – wenigstens einmal im Leben – einen Soloauftritt auf seinem Teller gewährt. Es hat, einfach in Wasser gegart, einen fruchtig-säuerlichen Duft, der an Haut erinnert, die mit Zitrone oder Orange in Berührung kam. Im Mund verströmt es eine leichte Süsse, aus der Aromen von Haselnuss oder Mandel, manchmal auch Fisch, Schnittblumen, Butter oder Crêpe-Teig zur Nase aufsteigen. Bei manchem Bissen drängt sich ein milchiges Parfum in den Vordergrund, das uns so vertraut und so fremd vorkommt wie die Melodie eines alten Liedes – kann es sein, dass uns das Aroma von Hühnerbrust an jene Milch erinnert, die unsere allererste Nahrung war, an die Köstlichste aller Verköstigungen, die Nahrung aller Nahrungen? Das wäre dann allerdings auch ein bestechender Grund für den fetten Erfolg des mageren Stücks.
Dieser Text erschien erstmals am Dienstag, 21. April 2015 als Teil der Serie «Mundstücke» (38) online im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung».