Viele Eingeweide sind auch starke Symbole. So ist das Herz ein Sinnbild für Leben und Liebe, die Hoden stehen für Fruchtbarkeit und Kraft, die Kutteln für Lebensfreude. Ein ganz besonderes Symbol ist auch die Leber, denn in ihr glaubte man seit frühesten Zeiten den Willen der Götter zu erkennen, die Kraft der Vorsehung zu erahnen. Vielleicht nahm dies seinen Anfang, als Zeus den Menschenfreund Prometheus bestrafen musste, weil er das Feuer aus dem Himmel gestohlen hatte. Der beleidigte Göttervater kettete den Dieb am Kaukasus fest und sandte den Adler Ethon aus, der täglich von der Leber des Titanen frass. Dem unsterblichen Prometheus aber wuchs das Organ immer wieder nach – eine Qual, von der ihn erst Herakles zu erlösen vermochte, der den gierigen Vogel erschlug. Der gnadenlose (Un-)Wille Gottes manifestierte sich also hier in erster Linie in der Leber.
Schon die Babylonier pflegten die Leberschau und lasen günstige und ungünstige Omen aus der Beschaffenheit dieses Organs, das sie aus Opfertieren holten. Eine Tradition, die Griechen und Etrusker später fortführten. Die Kunst der Hepatoskopie bahnte sich ihren Weg bis nach Indien und war auch den Azteken bekannt – ja in gewissen asiatischen Kulturen soll sie auch heute noch eine Rolle spielen. Auch bei dieser Orakel-Praxis ist die Leber das Medium, in dem der Mensch den Willen der Götter und also sein Schicksal erkennt.
Auch als Speise traute man der Leber bis vor wenigen Jahren noch einiges zu – ja sie galt als ein Heilmittel von geradezu göttlicher Potenz. War jemand zu dick, so setzte man ihn mit Leber auf Diät – war ein Kind zu klein oder zu schwach, so brachte man seine Zellen mit Leber in Schwung. Auch gegen Blutarmut oder Eisenmangel wurde das Organ gerne verschrieben, am besten roh.
Der ganz besondere Status der Leber äussert sich auch in den sogenannten Leberreimen. Diese scherzhaften Sprüche lassen sich im deutschen Sprachraum bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen – wie sie mit dem Verzehr von Leber zusammenhängen, ist allerdings nicht bekannt. Vom Charakter her gleichen die launigen Reimereien Trinksprüchen, wobei das Wort Leber darin stets eine Hauptrolle spielt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dichtet auch Karl Simrock diverse Leberverse – einer geht so: «Die Leber ist vom Steckenpferd und nicht von einem Rappen: Wer Weisheit will, der scheue nicht ein bisschen Überschnappen.»
Heute spielt die Leber als Heilmittel keine Rolle mehr, denn es überwiegen die Bedenken – fürchtet man sich doch vor den ganzen Giftstoffen, die sich in ihren Zellen anhäufen sollen. Ob ein Tier, das sein verhältnismässig kurzes Leben idealerweise auf einer schönen Alpweide verbringt, tatsächlich so viele Toxine in sich hineinfrisst und -säuft, sei dahingestellt – heutige Kochbücher wiederholen die Warnung auf jeden Fall fleissig. Erhalten hat sich die Leber als Delikatesse – und sie ist die einzige Innerei, die sich auch in unseren kuttelfeindlichen Zeiten noch einer gewissen Beliebtheit erfreut, nicht nur in der Gastronomie: Viele Menschen, die sonst keinerlei Innereien essen, können sich für eine gebratene oder mit Zwiebeln angeschwitzte Leber durchaus begeistern. Jede Leber hat ihre Meriten, ihre eigene Konsistenz und ihren eigenen Geschmack – auch wenn es oft heisst, die vom Kalb sei mit Abstand die feinste und die vom Schwein oder Rind höchstens für Würste oder Terrinen zu gebrauchen. Die Leber vom Lamm ist etwas dunkler als die des Kalbes. Ihr Anblick ist von monströser Schönheit. Die glänzende Oberfläche erinnert an Metall, die braunrote Farbe an fruchtbare Erde – die Gestalt aber ist zugleich perfekt und unheimlich, denn das Fleisch ist so weich, dass es seine Form nur teilweise behält und sich Oberflächen oder Widerständen wie ein zäher Pudding anpasst. Diese Nachgiebigkeit der Leber war es wohl auch, die Philipp Roths sexbesessenen Protagonisten Alexander in «Portnoy's Complaint» dazu verleitete, sich an einem «big purplish piece of raw liver» recht unschicklich zu vergreifen – Stunden später setzte Mutter Portnoy das heissgeliebte Stück der ganzen Familie zum Dinner vor. Wieder einer, der das Göttliche in der Leber gesucht hat.
Eine ganze Rindsleber wiegt je nach Tier etwa 7 Kilogramm – man kommt also in Privathaushalten nur selten in den Genuss, sie sich in voller Grösse vorzulegen. Eine Lammleber aber bringt es je nach Schlachtalter nur auf etwas mehr als 500 Gramm. Auf dem Küchentisch sieht sie aus wie eine gestrandete Qualle, die darauf wartet, von der nächsten Brandungswelle wieder ins offene Meer hinausgetragen zu werden. Wenn wir es berühren, gleitet uns das glitschige, wie eingeölt wirkende Wesen unter den Händen weg – es ist, als tanze es mit unseren Fingern übers Schneidebrett. Aufgeschnitten präsentiert sich die Lammleber als eine völlig fettfreie, weiche und feuchte Masse, in der man bloss ab und zu einem weisslich ausgekleideten Loch begegnet, einer Spur der Adern. Roh duftet frische Lammleber leicht nach Blut und Eisen, auch ein bisschen nach trockenem Quark. Im Mund fühlt sie sich feucht und knackig an. Sie schmeckt leicht zuckrig und sehr würzig, herb und doch auch frisch, entfernt erinnert das Aroma an einen sehr trockenen Schafskäse – neben einem solchen Flavour wirkt der meiste Sashimi-Fisch wie ein charakterloses Fleischlein.
Geröstet duftet die Leber des Lamms ganz fein nach einem sehr sauberen Stall, nach frisch verteiltem Stroh, leicht lieblich auch. Rosa gebraten hat sie eine weiche, zartschmelzende, butterige Textur und ein Aroma, das leicht süsslich ist, opulent und auf eine tiefe Art befriedigend. Diesen Zustand erreicht man am besten, wenn man die Leber im Ganzen brät – und gibt es etwas Schöneres, als sich mit Freunden so eine Lammleber zu teilen? Der Akt hat beinahe etwas von einem Ritual, mit dem man die Freundschaft bestätigt. Gart man die Leber allerdings über einen bestimmten Punkt hinaus, dann wird sie gummig und zäh, manchmal sogar bitter – zweifellos ein arger Fehler des Kochs, oder aber der Wille der Götter.
Dieser Text erschien erstmals am Samstag, 3. Mai 2014 als Teil der Serie «Mundstücke» (9) im Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung», S. 51.