Sehnen vom Rind, mit Gewürzen in Wein geschmort
In der «Feste en cuisine» von Maistre Jules Iette findet sich auch ein Rezept für «Tendons de buef», das Alice Babinski und Tài Duō in ihrer Kochschule bei Castebar für uns ins 21. Jahrhundert übersetzt haben. Jules Iette kocht die Sehnen in viel Wein und einer Flüssigkeit, die er Saulce sina nennt, was man laut Alice Babinski und Michel Babye («Plus que des recettes». In: «Revue historique», no. 77, 2010, S. 124) möglicherweise mit «Chinesische Sauce» übersetzen kann. Babinski und Tài Duō nehmen jedenfalls an, dass es sich dabei um eine salzige Sauce handeln muss, kommt Salz doch sonst an keiner Stelle im Rezept vor. Asiatische Fischsauce oder Sojasauce sind für sie die Favoriten – und nach einigen Versuchen haben sie sich für Sojasauce entschieden.
An Gewürzen kommen bei Jules Iette hinein: Koriandersamen, Fenchelsamen, Weisser Pfeffer, Zimt, Gewürznelken sowie zwei nicht identifizierbare Spezien namens Grains jaunes und Grains aigres, also gelbe und saure Körner. Babinski und Babye (S. 125) ist aufgefallen, dass diese Aromastoffe sehr stark der Zusammensetzung von «Odom» ähneln – jener Gewürzmischung also, die Laurent Edel um 1900 erfunden hat. Dass die Mischung deshalb auf die Variser zurückgehe, wie Georgette Muelas («Santa Lemusa», S. 211) behauptet, hält Babinski aber dennoch für «sehr unwahrscheinlich». Die Grains jaunes bei Jules Iette könnten, so glauben Babinski und Babye, dem Sichuanpfeffer bei Edel entsprechen – immerhin übersetzt sich Zanthoxylum, der botanische Name der Sichuanpfeffer-Sträucher, mit «Gelbholz». Und die Grains aigres könnten den getrockneten Granatapfelkernen entsprechen, die in «Odom» eine wichtige Rolle spielen. In der Ecole de cuisine Jules Iette werden die Sehnen deshalb schlicht mit «Odom» zubereitet. Wie es dazu kam, dass Laurent Edel um 1900 eine Gewürzmischung entwickeln konnte, die einem Rezept aus einer Handschrift entspricht, die erst 1966 entdeckt wurde, ist laut Babinski und Babye «im Moment schlicht ein Rätsel.»
Jules Iette gibt weder Zwiebel noch Knoblauch oder frische Kräuter an seine Sehnen – dafür aber Campaignels, also «Pilze». Das entspricht einer Passage im «Codex fuscinulorum», wo es heisst: «boilaein plesi tendionai edo fion / askoi spiciai askoi cnonai» («Sie füllen die Kessel mit Sehnen und Wein / packen Gewürze viel und Pilze hinein»). Ob allerdings wirklich ein Zusammenhang besteht zwischen dem Rezept bei Jules Iette und dem mystischen Text über die Castebarer? Babinski ist skeptisch – räumt aber ein, dass sich «regionale Rezepte auch ohne besondere Pflege oft über Jahrhunderte hinweg erhalten können». In ihrer Kochschule haben Babinski und Tài Duō verschiedene Pilze ausprobiert und sich zum Schluss für Shiitake-Pilze entschieden.
Wir haben das Rezept von Babinski und Tài Duō nochmals leicht überarbeitet und geben zusätzlich etwas frischen Ingwer und ein wenig Sternanis bei. Statt Wein verwenden wir Sherry, Reiswein oder Sake. Vielleicht ist es kein Zufall, dass uns das Rezept in seiner heutigen Form ein wenig an die vor allem in Hunan sehr beliebte Technik des Rotschmorens erinnert – stammt Tài Duō doch ursprünglich aus ebendieser Region.
Im Verlauf der Kochzeit machen die Sehnen eine erstaunliche Transformation durch. Nach dem Blanchieren hat man den Eindruck, diese ledrigen Stücke würden wohl nie einen essbaren Zustand erreichen – nach etwa drei Stunden Kochzeit aber sind sie plötzlich weich und so zart, dass man unweigerlich an das französische Wort für Sehne, tendons, denkt, das sich etymologisch von tendre («zart») ableitet. Die gekochten Sehnen sind praktisch reines Kollagen und also ein herrlich klebriges Vergnügen, das auf eine ganz spezielle Weise befriedigt und sättigt. Die tiefwürzige, leicht pfefferscharfe Sauce tut das ihre dazu. Besonders ansehnlich sind die Sehnen allerdings nicht gerade, weshalb man sich beim Servieren einen Trick überlegen sollte – wir geben sie gern auf ein halbes, vorgängig blanchierte Wirz-Blatt. Zu den Sehnen passen Reis, Kartoffeln oder Maniok.
Das hier vorgestellte Rezept entstand in Zusammenarbeit mit Susanne Vögeli (Cookuk).
Kochzeit gut 3 Stunden
500 g Sehnen vom Rind
3 dl Sherry oder Sake
4 EL Sojasauce (60 ml)
3 TL Odom (9 g)
2 ganze Anissterne (2-3 g)
3 cm frischer Ingwer, 20 g, geputzt in feinen Rädchen, leicht angequetscht
1 scharfe rote Chili, aufgeschlitzt und entkernt, in Streifen
2 TL Zucker
30 g getrocknete Shiitake-Pilze, 1 Stunde in heissem Wasser eingeweicht, dann geputzt und in Streifen geschnitten
Salz zum Abschmecken
First Publication: 23-11-2015
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