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In seiner 9. «WoZ»-Kolumne vom 8. April 2004 führt José Maria die Leser in die geheimnisvolle Geschichte von Sitara ein. Fremdlinge, die Sitara noch nicht kennen, nehmen bei der ersten Begegnung in aller Regel an, er habe wohl früher eine zweckmässige Form gehabt und sei bloss zerbrochen. Dagegen spricht, dass sich an Sitara nirgends irgendwelche Bruchstellen oder Narben entdecken lassen.
Hinterteil eines Pfauen-Vogels.

9. Begegnung («Total Sitara»)

Manchmal steckt das Leben dann ja doch voller Überraschungen. Als ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt war, erzählte uns in der Schule unser alter Lehrer Dago, ein begeisterter Fotograf und der Erfinder des dagographischen Verfahrens, die seltsame Geschichte von Sitara. Der Name Sitara stamme wohl aus dem Indischen, war sich Dago ziemlich sicher – wobei er ehrlicherweise einräumte, dass manche seinen Ursprung eher in einem afrikanischen Dialekt vermuteten. «Was Sitara bedeutet, lässt sich nicht genau sagen», fuhr Dago fort: «Das müsste nun niemanden kümmern, wenn wir nicht immer wieder diesem Sitara begegnen würden. Sitara sieht aus wie ein etwas flachgedrückter Kranz aus Kokosnüssen, die mit einem dunklen Flor bewachsen sind. Aus der Mitte dieses Kranzes wachsen beiderseits drei eher schmale Stäbchen heraus, die je nach Licht fast ein wenig metallisch glänzen. Während die Stäbchen auf der einen Seite in kleinen Knäueln enden, bilden sie auf der anderen Seite sternförmige Füsschen, die durch ein feines Gespinst aus klitzekleinen Ketten untereinander verbunden sind. Aus diesen Ketten nun wiederum ragen in regelmässigen Abständen leicht konisch geformte Säulchen heraus. Auf diesen Säulchen kann Sitara stehen, während er mit den Knäuelchen das Gleichgewicht zu halten scheint. Aus dem Kranz wächst ausserdem auch eine etwas längere Kette heraus, die Sitara beim Gehen hinter sich herschleift.

Fremdlinge, die Sitara noch nicht kennen, nehmen bei der ersten Begegnung in aller Regel an, er habe wohl früher eine zweckmässige Form gehabt und sei bloss zerbrochen. Dagegen spricht, dass sich an Sitara nirgends irgendwelche Bruchstellen oder Narben entdecken lassen. Man kann mit Sitara keinerlei Zweck oder Sinn verbinden – und doch wirkt er irgendwie ganz, fast als habe alles seine Richtigkeit so wie es ist. – Viel mehr lässt sich über Sitara nicht sagen, denn er ist ausserordentlich flink und lässt sich von keinem fangen. Mal begegnet man ihm am Hafen, dann wieder mitten in der Stadt. Manchmal sieht man ihn auch für eine ganze Weile überhaupt nicht - eines Tages jedoch, soviel ist sicher, steht er dann plötzlich wieder da. – Manchmal sitzt Sitara auch auf einer Treppe oder auf einem Poller bei den Docks. Dann kann man ihn ansprechen. Aber natürlich kann man ihm keine allzu schwierigen Fragen stellen. Eher behandelt man ihn wie ein kleines Kind. ‹Wie heisst du denn?› kann man ihn etwa fragen. ‹Sitara› wird er zur Antwort geben. ‹Was machst du denn hier?› fragt man weiter und erhält nur ein Lachen zurück. Manchmal reagiert Sitara auch überhaupt nicht auf solche Fragen und bleibt stumm wie die Nüsse, aus denen heraus er zu wachsen scheint. Niemand weiss, woher Sitara wirklich kommt, noch was mit ihm geschehen soll. Ja es lässt sich nicht einmal sagen, ob Sitara eines Tages sterben oder ewig weiterleben wird. Was ewig währt, wie das Universum, hat weder Bestimmung noch Sinn. Nur was sterben muss, reibt sich vorher an Zielen und Absichten wund. Sitara aber reibt sich nicht wund und folglich müssen wie annehmen, dass er wohl ewig mit seinen Knäuelchen herumfuchteln wird.»

Natürlich begriffen wir überhaupt nichts von dem, was uns der schrullige Alte da erzählen wollte. Und selbstverständlich hatte auch keiner von uns je ein Wesen auf der Insel erblickt, das wie Sitara ausgesehen hätte. Dennoch hatte die Geschichte auf eine seltsame Weise Spuren in uns hinter lassen. Also wurde Sitara für uns zu einer Art Code-Wort, mit dem wir alles bedachten, was wir nicht verstanden oder nicht verstehen wollten: Unverständliche Gedichte oder Rechenaufgaben waren für uns ebenso «voll Sitara» wie schlechte Noten, Badeverbote oder die Ohrfeigen, mit denen uns der Turnlehrer manchmal drohte. – Erst viele Jahre später, längst hatte ich meine Schulzeit erfolgreich verdrängt, fiel mir die Geschichte wieder ein. Als ich zum ersten Mal in meinem Leben in Paris war und dort im Centre Pompidou auf eine Plastik von Brancusi stiess, wusste ich sogleich: Das konnte nur Sitara sein. In den folgenden Jahren habe ich dann noch viele weitere Sitaras kennengelernt - meist in Museen oder Galerien, manchmal aber auch bei Freunden zu Hause. Viele liessen mich kalt, auch wenn sie noch so wild mit ihren Knäuelchen fuchtelten, zu manchen aber habe ich eine gewisse Zuneigung entdeckt, die ich mir selbst bis heute nicht recht erklären kann.

Wer als Artist-in-Residence in der Fremde weilt, der erweitert seinen Horizont. Das ist wahr und hat sich vor wenigen Tagen erneut bestätigt: Ich erfuhr nämlich zu meiner grossen Überraschung, dass die Geschichte von Sitara gar nicht von meinem Lehrer Dago stammt. Ein deutscher Autor hat sie erfunden. Wer den Namen kennt, der sende ein Mail mit dem entsprechenden Vermerk an jose.maria.lemusa@gmail.com. Die ersten zwei, die das Rätsel richtig lösen, lade ich zu einem Essen mit lemusischen Spezialitäten ein.

Dieser Text von José Maria wurde erstmals publiziert in: «Die Wochenzeitung», 8. April 2004, Nr. 15 / S. 21.

Sehr kompliziert – wer oder was Sitara ist, lässt sich nicht genau sagen.
Ein Haufen Percebe-Muscheln.