Lǐ Tài Bái, der Gründer der Sternanis-Farm Plantation Laozi, gilt als der allererste Chinese auf Santa Lemusa. Rund dreissig Jahre nach seiner Ankunft treffen in den Jahren um 1860 in mehreren Wellen rund zweitausend Arbeiterinnen und Arbeiter aus China auf der Insel ein – die meisten von ihnen stammen aus Shanghai und der Provinz Hunan. Sie fliehen vor den Folgen der gewaltigen Taiping-Rebellion (1850-64). Auf Santa Lemusa engagieren sie sich vor allem im Dienstleitungsbereich und in den diversen Fabriken. Viele lassen sich im Süden der Altstadt von Port-Louis, zwischen der Place Kokliko und dem Boulevard Oscar I. nieder.
Ehemals Gerber und Färber. Das Quartier liegt damals noch ganz am Rande der Stadt und wird von einer Gerberei und Färberei dominiert, in der ebenfalls einige der Chinesen eine Anstellung finden. Wegen der mit einem solchen Betrieb verbundenen Gerüche sind die Grundstücke und Mieten in der Gegend sehr günstig. 1899 stellt diese Fabrik ihren Betrieb ein und wenige Jahre später wird das Grundstück versteigert. Ein Teil geht in den Besitz der Stadt über, die hier Jahre später ein kleines Kulturzentrum einrichtet («La Tannerie», Stadtplan). Der zweite Teil wird an eine chinesische Familie verkauft, die eine Textilfabrik gründet und 1919 sogar so etwas wie ein eigenes Kleider-Label, «Xin Qingnian» genannt, «Neue Jugend» (in Anlehnung an die gleichnamige Zeitschrift, mit der Chen Duxiu die chinesische Jugend politisiert). Heute erinnern eigentlich nur noch die Strassennamen an die Vergangenheit des Quartiers als Gerber- und Färber-Viertel: Rund um die Rue des Tanneurs gelangt man von der Rue Rouge (Ri Wouj) über die Rue Verte (Ri Vè) oder die Rue Bleue (Ri Blé) zur Rue Jaune (Ri Jòn) und biegt im Süden schliesslich in die Rue des Bassins ein.
Garküchen. Auch heute noch steigt bei Tag und bei Nacht heftiger Dampf in den Gassen auf – nun aber stammt er nicht mehr von der Fabrik, sondern von den zahlreichen Garküchen, die hier die verschiedensten Spezialitäten anbieten. Wegen dieses Dampfes wird das Quartier von den Bewohnern der Hauptstadt auch Katye Vapè (Quartier Vapeur, also «Dampfquartier») genannt. Manche nennen die Gegend allerdings auch einfach Ti-Chin (Petite Chine, «Kleines China)» Von der lackierten Ente über die verschiedensten Nudeln bis zu Flusskrebsen oder Riesenmuscheln bekommt man in der Rue Rouge alles, was sich mit zwei Stäbchen essen lässt – ja es gibt hier auch Spezialitäten, die sogar für die kulinarisch sehr experimentierfreudigen Bewohner der Hauptstadt ziemlich ungewöhnlich sind. Vor allem nachts herrscht in der Ri Wouj eine Stimmung, die dem Ambiente in den Essstrassen Shanghais oder Pekings in Nichts nachsteht.
Lebhafter Markt. Die Rue Verte (Ri Vè) hingegen bietet vor allem tagsüber einen farbenprächtigen Markt, auf dem Fische, Geflügel, Fleisch, Gemüse, Arzneimittel, lebende Tiere und allerlei Kleinigkeiten und Seltsamkeiten angeboten werden. Auch hier kann man sich für wenig Geld mit einer Suppe oder ein paar Teigtaschen stärken. Die Rote Strasse sowie der Markt an der Grünen Strasse werden hauptsächlich von den chinesischstämmigen Bewohnern der Insel frequentiert – sie sind aber auch bei der übrigen Bevölkerung sehr beliebt, die sich hier gerne verköstigen lässt oder allerlei exotische Zutaten einkauft.
Zaghafte Vermischung. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wohnen fast ausschliesslich Chinesen im Katye Vapè – und sie bleiben unter sich. Erst von den 1950er Jahren an, ab der dritten und vierten Generation, nehmen die Mischehen mit anderen Teilen der lemusischen Bevölkerung zu. Von den 1970er Jahren an ziehen dann auch mehr und mehr Nicht-Chinesen in das Quartier im Süden der Stadt – insgesamt bleibt ihr Anteil jedoch relativ gering und vor allem sind sie auf der Strasse weit weniger sichtbar als die vielen chinesischstämmigen Inselbürger, die hier den Alltag bestimmen.
Chinesisch-lemusische Mischformen. In den 1970er Jahren setzt der Quartierverein sogar durch, dass einzelne Strassen und Plätze des Quartiers chinesische Namen bekommen – die Bezeichnungen allerdings, die sich schliesslich offiziell durchsetzen, sind seltsame kreolisch-chinesische Mischformen: So trifft man im Katye Vapè etwa auf die Place Sanjesu, die mit Jesus gar nichts zu tun hat sondern ursprünglich sān yē-zi (drei Kokosnuss) hiess – wohl weil hier einst drei Kkokosnusspalmen in den Himmel ragten. Auf der Rue Javoue hat niemand etwas gestanden, wie mancher annehmen könnte (französisch j'avoue): Sie hat ihren Namen vom Chinesischen xià-wŭ (Nachmittag). Dass die Bā-băo Lù, die Acht-Schätze-Strasse zur Rue Baba trivialisiert wurde, muss man bedauern. Um die Tán-yú Lù, die Spucknapfstrasse mag man hingegen nicht wirklich trauern – sie heisst heute Rue Tanguy. Nur die enge Yá-qiān Lù, die Zahnstocher-Strasse, hat ihren chinesischen Namen aus irgendwelchen Gründen recht unverfälscht behalten – wobei sie kurioserweise in leichter Verdoppelung als Rue Yá-qiān Lù angeschrieben ist (auch Lù heisst ja Strasse).
Die Ausnüchterungszelle. So höflich und zuvorkommend die meisten Chinesen sind, denen man auf Santa Lemusa begegnet – wenn sie mit grösseren Mengen Alkohol in Berührung kommen, dann werden sie manchmal sehr laut und ausgelassen. Für ganz besonders harte Fälle stellte der Quartierverein bis vor wenigen Jahren sogar eine eigene Ausnüchterungszelle zur Verfügung. Der Raum mit dem vergitterten Fenster, den man heute noch an der Rue Blanche besichtigen kann, gehört allerdings unterdessen zum benachbarten Kindergarten – und die ältere Dame, die man hier manchmal durch die Gitterstäbe hindurch erblickt, ist keineswegs ein Opfer der lemusischen Cocktail-Kultur, sondern die Köchin des Kinderhorts.
Himmlischer Duft. Eine echte Institution im Katye Vapè ist das bereits 1936 von der Familie Deng gegründete Restaurant «Palais Deng» (Stadtplan), dessen chinesischer Name übersetzt etwa Himmel-Duft-Haus, also himmlisch duftendes Haus heisst. Das Lokal liegt an der Place Kokliko, Ecke Rue Bleue, und bildet so eine Art duftenden Auftakts zum Quartier der Chinesen. Das «Deng» serviert eine Shanghaier Küche, in die sich allerdings über die Jahre hinweg einige lemusische Noten eingeschlichen haben. Heute lenkt Lise Deng Táo-zi die Geschicke am Herd, sie ist die Urenkelin des Restaurant-Gründers Deng Māo. Wer etwas zuviel duftendes Fleisch in seinen magen hat leiten lassen, kann sich im nahen Jardin Tú zur Erholung unter die Bäume legen.
Verschleckter Vogel. Auch die Rue des Bassins, eigentlich eine ruhige Wohnstrasse, hat ihre kleine Attraktion zu bieten. Monsieur Shang, der früher Kellner im «Palais Deng» war, stellt hier Tag für Tag seinen Papagei namens Gùkè auf die Strasse, der sich auf Befehl wie ein verwöhnter Gast (gù-kè heisst ja auch Kunde) benimmt und entsprechende Wünsche in die Luft hinaus krächzt: Mal bestellt er eine Schüssel Reis, dann will er sofort die Rechnung oder verlangt nach «má-tuán, má-tuán» (das sind Sesam-Klösse mit roter Bohnenpaste). Nur das Rülpsen hat Monsieur Shang seinem Tier noch nicht beigebracht. Die Nachbarn amüsieren sich über den verschleckten Vogel, zumal er über ein breites Repertoire an Bestellungen verfügt – nur manchmal, sagen sie, manchmal machen sie Gùkè's Wünsche doch ziemlich hungrig.
Sternanis aus dem Quartier Vapeur. Wenngleich etwas ausserhalb gelegen, gehört die Plantation Laozi natürlich ebenfalls zum Quartier Vapeur. In dieser eigenwillige, achteckig angelegten Plantage östlich des Jardin Tú produziert Zhen Hua Li in der siebten Generation Sternanis oder genauer «Baschi Dao» für die ganze Insel.
First Publication: 11-2007
Modifications: 18-2-2009, 30-9-2011, 14-10-2012