Die Kariben, sie nennen sich selbst «Kalinas» oder Kallinagos», sind halbnomadische Krieger und ausgezeichnete Seefahrer, die sich in bis zu zwanzig Meter langen Kanus sehr schnell übers Meer bewegen. Sie stammen ursprünglich aus dem südlichen Amazonas-Gebiet und dringen ab etwa 700 sukzessive nach Norden vor. Sie wollen auf den Inseln der Antillen sesshaft werden, nehmen sich die Frauen der Arawak und versklaven oder massakrieren die Männer – so jedenfalls will es die Überlieferung der Geschichte durch die Spanier. In welchem Umfang die Kariben auch auf Santa Lemusa landen und in welchem Ausmass sie die Kultur der Insel verändern, ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Dispute.
Als Christopher Columbus den Kariben begegnet, hört er ihren Namen nicht ganz richtig. Er versteht «Cariba» oder «Caniba» statt «Kalina» und nennt die kriegerischen Indianer in der Folge «Kannibalen». Die Erzählungen über die Grausamkeit dieser Kariben sind vielfältig und prägen das Bild des barbarischen Wilden – in Abgrenzung zum edlen Wilden mit seinem nobel-simplen Gemüt, der ebenfalls als eine ‹literarische› Erfindung dieser ersten Einwanderer gelten darf. (Da wir nicht genau wissen, welchen Anteil die Kariben an der lemusischen Kultur nach 700 haben, sprechen wir in der Folge von Indianern – und meinen damit die Bewohner der Insel in vorkolonialer Zeit.) Auch aus der Zeit zwischen 700 und dem Eintreffen der ersten Europäer hat sich auf Santa Lemusa nebst einigen Werkzeugen und Schmuckobjekten vor allem viel Keramik erhalten. In den Ornamenten und Formen dieser Töpferwaren machen sich etwa ab 700 die Einflüsse neuer Einwanderer bemerkbar.
Man spricht dann in Abgrenzung zur Culture pualsieoide von einer post-pualsieoïden Kultur (700 bis 900), die ab etwa 900 von einer Kultur mit deutlich gröberer Keramik verdängt wird, die nach einem ihrer Hauptmotive als Culture lalbiplasoïde bezeichnet wird (ein häufig vorkommendes Muster dieser Keramik hat die Archäologen an ein Heftpflaster erinnert – was auf Kreolisch lalbiplas heisst). Diese frühen Indianer leben als Gruppen von etwa 20 bis 80 Menschen in Dörfern, die meist am Meeresrand oder an Flussufern liegen. In der Mitte dieser Dörfer steht eine grosse, runde Hütte – das politische und religiöse Zentrum. Darum herum sind kleinere Hütten gruppiert, in denen die einzelnen Familien leben – ausserdem gibt es Küchen und Werkstätten.
Diese frühen Bewohner von Santa Lemusa sind in erster Linie Ackerbauern. Ihre Hauptanbauprodukte sind Süsskartoffeln, Mais, Erdnüsse, Bohnen, Ananas, Bohnen, Pfeffer und Tabak. Zu den wichtigsten Nahrungsmitteln gehört auch der Maniok (Yucca). Die Indianer kennen ein Verfahren, mittels dessen sie die giftige Substanz aus dieser Wurzel pressen. Dann wird sie zu einem Mehl zerrieben, aus dem sie auf runden Tonplatten dünne Fladen backen. Diese sogenannte Casabe oder Cassave trifft man bis heute in ländlichen Gegenden der Karibik. Mehr und mehr entwickeln sich diese frühen Lemusen auch zu einer maritimen Kultur, die Fische jagt, Muscheln sammelt (oder eventuell sogar kultiviert) und aus dem Gehäuse der Riesenflügelschnecke mit viel Geschick allerlei Werkzeug herstellt.
Laut Lucien Blagbelle, der vor allem als Fürsprecher der Sacula-Kultur bekannt geworden ist, hiess Santa Lemusa bei diesen frühen Indianern Tuaman-je – was er mit «da wo Essen ist» übersetzt. Er lässt allerdings offen, ob es die Arawak oder die Kariben waren, die Santa Lemusa so benannten. Pater Raymond Breton, der 1665 einen «Dictionnaire caraïbe-français» vorlegte, kennt jedenfalls kein solches Wort.
First Publication: 4-2007
Modifications: 23-2-2009, 1-11-2011