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Manche Entdeckung entpuppt sich früher oder später als Fiktion.

Fiktive Inseln

Im Jahre 1884 segelte Johann Otto Polter an einer Insel vorbei, die er für unentdeckt hielt und Kantia taufte. Auf der von ihm für Kantia angegebenen Position aber liegt eigentlich Santa Lemusa. Seltsamerweise gelang es Polter nicht, sein Kantia auf nachfolgenden Expeditionen wiederzufinden. Ob es die Insel je gab, die er da gesehen hat? Wie auch immer: Der Leipziger Kaufmann ist auf jeden Fall nicht der einzige Abenteurer, dessen Entdeckung sich bis heute hartnäckig in den Weltmeeren verbirgt – andere Inseln mit ähnliche Schicksal heissen Antillia, Buss, St. Brendan oder Brasil.

«Im Osten schlägt der atlantische Ozean mit wilder Wucht seine Gischt gegen eine felsenreiche Küste. Im Süden und Westen aber plätschert die See mit zartem Grün über strahlend-weissen Sand. Der Norden der Insel wird von einem Gebirge beherrscht, der Süden ist eher flach und überall scheint die Erde äusserst fruchtbar. Die Wilden gehen nackt wie Gott sie geschaffen und sind von guter Statur – auch scheinen sie wohl gesonnen. Es ist ein Paradies auf Erden – zum Ruhme unseres grössten Denkers will ich es Kantia taufen.» Johann Otto Polter, der einige Seemeilen östlich des äusseren Antillenbogens «auf dem 14. Breitengrade unter dem Wendekreis des Krebses plötzlich eine Insel aus dem Meer aufsteigen» sah, war ein Abenteurer aus einer reichen Leipziger Kaufmannsfamilie – ein selbst ernannter Ozeanologe und, wie sich zeigen würde, ein in jeder Hinsicht phantastischer Segler. Nach seiner Entdeckung von Kantia im Jahre 1884 organisierte Polter aus eigenen Mitteln eine Expedition, um das atlantische Paradies «in unsere deutsche Heimat zu überführen». Mit zwei grossen Schonern brach er 1888 von Trinidad aus zu dem Abenteuer auf. Allein Kantia wollte ganz offenbar nichts mit Wilhelm II. zu tun haben: Hartnäckig blieb das Paradies verschwunden.

Was hatte Polter gesehen?

Was aber hatte Polter gesehen? Hatte er seine Position falsch berechnet? War er das Opfer eines Fieberanfalls geworden? War es der Rum, den er auf Martinique nebst einem «jungen Mulatten» mit an Bord genommen hatte? Und was ist aus den «zwei treuen Freunden» geworden, die ihn auf der fraglichen Fahrt begleiteten? Polter wollte partout nicht glauben, dass er sich getäuscht haben könnte. In den Jahren 1903 und 1909 unternahm er weitere Expeditionen, um Kantia zu finden – vergeblich indes. Auf einer Foto aus den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg sehen wir einen unterdessen ergrauten Herrn mit einem mächtigen Schnauz, der stolz an uns vorbei in die Ferne blickt – in der Linken hält er ein Dokument, das ihn gemäss Legende als den legitimen Entdecker von Kantia «im Dienste von seiner Majestät Wilhelm II., Kaiser der Deutschen und König von Preussen», auszeichnet. Polter war zu diesem Zeitpunkt offenbar immer noch überzeugt, dass er Kantia dereinst finden würde. - Johann Otto Polter war nicht der erste Abenteurer, der in den Weiten des Ozeans ein Inselparadies entdeckte, das vom Massentourismus mit grosser Wahrscheinlichkeit auf alle Zeiten hin unberührt bleiben würde. Seit sich die Menschen in die Weiten der Weltmeere hinauswagen, entdecken sie fremde Länder und Inseln. Manche dieser Entdeckungen behaupten sich hartnäckig (zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika), andere werden früher oder später als Fiktionen, als erfundene Landschaften entlarvt.

Ein überaus rühriger Abt

Einer der frühesten Inselentdecker war der heilige Brendan, ein überaus rühriger Abt aus Irland, der zwischen 484 und 577 lebte. Wohl etwa in den Jahren um 530 brach er zusammen mit 14 mutigen Mönchen in einem aus Weiden geflochtenen und mit Ochsenhaut bespannten Nachen auf, den Atlantik nach der Insel der Seligen abzusuchen. Seine Erlebnisse sind in der «Navigatio Sancti Brendani» geschildert, die rund fünfhundert Jahre später niedergeschrieben wurde. Während der siebenjährigen Irrfahrt über den Ozean haben Brendan und seine Mannen einiges durchgemacht: Sie wurden von «Zwergen schwarz wie Kohle» argwöhnisch beobachtet, mussten an Pfeilern aus Kristall oder «Seekatzen mit Schnurrhaaren und Hauern» vorbei und steckten gar zwei Wochen lang fest in einer «geronnenen See». Schliesslich aber fanden sie endlich ihre «Terra repromissionis Sanctorum». Jedenfalls stiessen sie auf einen überaus grünen Landstrich und kehrten mit der Überzeugung nach Irland zurück, das Paradies gesehen zu haben. Ob Brendans Expedition überhaupt je stattgefunden hat, weiss man nicht – vielleicht wurde die Legende seiner Fahrt auch bloss aus dem gesammelten Seemannsgarn jener Zeit gestrickt. Auf jeden Fall aber gibt es im ganzen Mittelalter kaum eine Karte, auf der nicht irgendwelche Insulae Fortunate Sancti Brendani verzeichnet sind. Auch unternahmen in den folgenden Jahrhunderten Seefahrer aus den verschiedensten Gegenden der damaligen Welt den Versuch, Brendans Insel zu finden - einige mit Erfolg (der Italiener Marco Verde zum Beispiel), die meisten aber vergeblich. Ob Brendan und seine Mönche tatsächlich bis zu der paradiesisch-grünen Küste von Nordamerika gesegelt sind, wie manche vermuten, sei dahingestellt. 1976 jedenfalls unternahm Timothy Severin, ein Kulturwissenschafter aus Oxford, mit vier Begleitern den Versuch, auf Brendans Spuren in einem nachgebauten Ochsenhautboot nach Amerika zu gelangen – mit Erfolg.

Irrtümer und Zufälle

Severins Experiment unterstützte die These, dass irische Kleriker schon vierhundert Jahre vor den Normannen Amerika entdeckt haben könnten – mehr oder weniger zufällig, auf der Suche nach dem Paradies. Auch die berühmteste Entdeckung von Amerika war ziemlich direkt das Ergebnis von Zufall und Irrtum. Christopher Kolumbus' Sprung ins grosse Abenteuer basierte nämlich fast ausschliesslich auf falschen Annahmen. Zum Beispiel hatten die Kartographen seiner Zeit den Umfang der Erde viel zu knapp berechnet. Vor allem aber baute Kolumbus darauf, dass er unterwegs auf die Insel Antillia stossen würde. Antillia wurde auch die «Insel der sieben Städte» genannt, und es hiess, diese seien von Christen auf der Flucht vor den Mauren gegründet worden. Laut der sogenannt «genuesischen» Karte von Paolo dal Pozzo Toscanelli, die Kolumbus' Reise nach Indien wesentlich steuerte, lag Antillia rund 2000 Seemeilen von der Azoreninsel Gomera entfernt mitten im Atlantischen Ozean: ein längliches Rechteck, fast so gross wie Britannien. Dennoch segelten alle Schiffe des Kolumbus an Antillia vorbei – und auch im Rahmen nachfolgender Expeditionen konnte die Insel nicht gefunden werden.

Hoffen auf Antillia

Ob Kolumbus die gefährliche Reise wohl auch ohne die Hoffnung auf Antillia unternommen hätte? Einige tausend Seemeilen weiter westlich stiess er schliesslich doch noch auf Land. Wenn wir allerdings heute im Zusammenhang mit dieser Gegend von den «Antillen» oder von «Westindien» reden, dann erinnern wir damit immer auch an die falschen Annahmen, die Kolumbus' Entdeckung von Amerika im Grunde wohl möglich gemacht haben. Und so real die Inseln der Karibik auch sind – ihr Sammelname ist Fiktion. Nun könnte man annehmen, dass die Entdeckung von Inseln, die sich über kurz oder lang als reine Fiktionen entpuppen, mit den Aufklärungen der Neuzeit ein jähes Ende nimmt. Das Gegenteil aber ist der Fall: Mit der Neuzeit werden die Ozeane erst recht mit Inseln aller Art bevölkert. In den 1570er Jahren zum Beispiel entdeckt der britische Admiral Martin Frobisher zwischen Island und Grönland die Insel Buss. Weit grösser noch war die Insel Frisland, die ein Venezianer etwas weiter im Nordwesten gesehen haben wollte.

Kapitän Benjamin Morrell

Im frühen 19. Jahrhundert dann trat Kapitän Benjamin Morrellauf den Plan, der gleich zwei neue Inseln entdeckte, die er Morrell und Byers taufte. Beide liessen sich noch bis vor wenigen Jahren auf einzelnen Karten zum Beispiel der Lufthansa finden, die zum Glück nie dort notlanden musste. Ob Bra, Brazil oder Estotiland, ob Ile Philippaux, Isle of Demons, The Lowland Hundred oder Mayda – die Zahl fiktiver Inseln ist weit grösser noch als die verschwundener Länder wie Atlantis, Avalon, Lemuria, Lyonesse oder Mu. Die Situation ist oft kompliziert, denn selbst wenn Literaten die Existenz von Inseln behaupten, ist damit ja noch nicht bewiesen, dass sie auch wirklich nicht existieren - Zweifel solcher Art nährt etwa die Insel Redonda, die seit 1997 vom spanischen Autor Javier Marías regiert wird.

Entdeckung aus dem All

Am 19. Februar 2000 stand in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zu lesen: «Vollkommen unerwartet haben die Astronauten an Bord der Raumfähre Endeavour am siebenten Tag ihrer Erdumrundung einen bisher unbekannten Archipel in der Andamanensee, einem Randmeer des Indischen Ozeans, entdeckt. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von sieben Inseln in kreisförmiger Anordnung vor der thailändischen Küste, deren grösste fast genau im Zentrum liegt.» Das Archipel erinnerte die Astronauten an das Auge eines Elefanten aus dem Frankfurter Zoo und also gaben sie ihm den Namen «Ele-Archipel». Das Ganze war, wie wir annehmen dürfen, wohl ein vorgezogener Aprilscherz. - Wenige Wochen später allerdings hiess es in den Medien schon wieder, die «Endeavour» habe bei Erdvermessungen eine zwei Quadratkilometer grosse Insel entdeckt – nun im Tasmanischen Meer. Und diesmal war die Nachrichtenlage eine ganz andere, denn der deutsche Astronaut Gerhard Thiele bestätigte die freudige Neuigkeit sogar höchstpersönlich in einem Interview mit dem ZDF. All dieser Seriosität zum Trotz ist es bis heute aber noch niemandem gelungen, die fragliche Insel auch tatsächlich zu finden. Ein Messfehler wie zu Kolumbus' Zeiten? Ein Astronauten-Scherz? – Der Wunsch, die Erde möge noch Entdeckungen zu bieten haben, scheint offenbar immer noch so stark, dass er ganze Insellandschaften aus dem Meer gebären kann. Und wer heute mit seinem Segelboot den Atlantik überquert, der sollte sich nicht wundern, wenn er auf dem 14. Breitengrad über dem Wendekreis des Krebses plötzlich Kantia vor sich in den Himmel ragen sieht. Doch keine Angst: Die «Wilden» sind ja «wohl gesonnen»

Dieser Text wurde erstmals publiziert in der Beilage «Literatur und Kunst» der «Neuen Zürcher Zeitung» am Samstag, 22. Mai 2004, S. 62 (unter dem Titel «‹Die Wilden scheinen wohl gesonnen› – Unterwegs in einer fiktionalen Meereslandschaft». (Die ganze Seite aus «Neuen Zürcher Zeitung» als PDF)

Johann Otto Polter in Endeckerpose. Das Porträt wurde in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg vermutlich in Leipzig aufgenommen.

First Publication: 5-2005 (vormals PJ068)

Modifications: 23-3-2009, 1-11-2