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Ein unglaubwürdiger Filmschnitt

Montreal (Canada) Vieux Port
Rue Mill
Mittwoch, 5. November 2014

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Der Begriff «Vieux Port» bringt im Gemüt fast automatisch Bilder von Jachten hervor, die Flanke an Flanke auf ihre Kapitäne warten. Der Wind lässt die Metallteile der Takelagen gegen die Masten trommeln, und in überfüllten Bistrots balancieren Kellner mit beleidigten Gesichtern runde Tabletts voller halb verschütteter Kaffees zwischen den Tischen hindurch. Vor den Restaurants liegen tote Fische auf Betten aus Eis, bewegen sich schwarze Hummer in Zeitlupe über Berge aus Algen. In den Boutiquen riecht es nach Lavendel, und es werden blau-weiss gestreifte Pullover verkauft.

Auch in Montreal gibt es einen «Vieux Port», der unmittelbar an das alte Stadtzentrum grenzt – wie sich das gehört. Allein nach Jachten sucht man in diesem Hafen vergeblich – und auch sonst kommt hier kaum Ferienstimmung auf. Das hat weniger damit zu tun, dass dieser Hafen an einem Kanal liegt – dem Canal de Lachine, der einst zur Umschiffung der gleichnamigen Stromschnellen gebaut wurde. Für Erstaunen sorgen vielmehr die gigantischen Silos, die wie verlassene Raumstationen über den Hafenbecken thronen. Diese betongrauen Monster machen dem Besucher auf den ersten Blick deutlich, dass er hier keine gestreiften Pullover finden wird. Der Eingang zum Lachine-Kanal war einst ein gigantischer Umschlagplatz, wo Waren via Hangars und Silos von Ozeanfrachtern auf Flussschiffe verladen wurden – und umgekehrt. In den 1920er Jahren war Montreal dank diesen Anlagen der weltweit wichtigste Hafen für den Getreideexport – und einer der grössten Flusshäfen überhaupt. Ende der 1950er Jahre allerdings wurde der Kanal wegen der neu gebauten Voie du Saint-Laurent überflüssig, die es mit ihrer grösseren Tiefe Ozeanfrachtern gestattete, direkt bis fast 4000 Kilometer ins Landesinnere des nördlichen Amerikas zu schiffen. Seither sind die Silos und Hangars, die Krananlagen und Schleusen ganz allmählich zerfallen. Eine industrielle Landschaft, die einst durchaus mit Stolz vorgezeigt, fotografiert, gemalt und beschrieben wurde, hatte plötzlich keine Bedeutung mehr – und war doch immer noch da, nur einen Steinwurf entfernt von der schmucken Altstadt mit ihren kleinen Häusern und ihrer neogotischen Notre-Dame. Die Bedeutung dieser Anlage für die Geschichte der Industrialisierung Montreals ist das eine – sie wird die arg abgewrackten Gebäude vielleicht vor dem Abriss bewahren. Das Erlebnis aber ist einzigartig und hat etwas von einem leicht unglaubwürdigen Filmschnitt: Man schlendert durch hübsche Strassen mit niedrigen Steinhäusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert, lässt sich von zahllosen Restaurants beduften und von den Auslagen kleiner Geschäfte aufhalten, überquert warm beleuchtete Plätze – dann biegt man um eine Ecke, und plötzlich ragt da vor einem etwas Riesiges in den Himmel, kalt und völlig lebensleer. Es fühlt sich an, als sei man auf eine unmenschliche Zukunft geprallt, dabei ist es ja die Vergangenheit, die hier stehengeblieben ist.

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Chou-fleur rôti (Im Ofen gebackener Blumenkohl mit einer Sauce aus Zitronensaft, Ahornsirup und Olivenöl, Kapern, Speck und Zimt)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 30-11-2014

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