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Der «Tiger», hier das Schild auf der Theke von «Harry's Cafe de Wheels», ist mehr als nur eine Pie, er ist ein ganzer Nahrungsmittel-Turm.

«Tiger» aus «Harry's Cafe de Wheels»

Rindfleisch-Pastete mit Kartoffelstock, zerquetschten Erbsen und Sauce – ein widerstandsloses Erlebnis zu Peter Polters Episoda 140318 Sydney Cockatoo Island

Die Meat Pie ist zweifellos das Nationalgericht Australiens. «Harry's Cafe de Wheels», das seit 1938 an der Cowper Wharf Road in Sydneys Woolloomooloo steht, gilt als eine Ikone der Pie-Kultur. Und der «Tiger», benannt nach dem Café-Begründer Harry «Tiger» Edwards, steht im Ruf, die Pie schlechthin zu sein. Auch Marlene Dietrich soll hier schon mal einen Tiger gebändigt haben. «You can’t leave Sydney without trying a Tiger», resümiert etwa der «Lonely Planet» – und der muss es ja wissen, hat der Reiseführer doch seinen Ursprung in Australien.

Der «Tiger» ist mehr als nur eine Pie, er ist ein ganzer Nahrungsmittel-Turm. Die Basis bildet eine runde Pastete mit einem Durchmesser von etwa 15 cm, 6 cm hoch. Darauf kommt ein kräftiger Schlag Kartoffelpüree und darauf wiederum ein grosser Löffel grüne, halb zerquetschte Erbsen. Zum Abschluss drückt die flinke Asiatin, die meinen «Tiger» zusammenstellt, eine kleine Delle in die Erbsen und giesst etwas braune Sauce hinein. Dann wuchtet sie das Gebilde, das nun fast so hoch ist wie breit, auf einen mit einem Wachspapier ausgelegten Plastikteller und schiebt es mir über die Theke zu – «Enjoy!»

Ich setze mich auf einen hölzernen Balken am Rand der historischen Cowper-Werft, stelle den Teller auf meine Knie, breche mit einer Plastikgabel eine Ecke aus der Pastete, häufe etwas Mash, Erbsen und Sauce drauf – und schiebe mir das Ganze in den Mund. Der Happen ist so beschaffen, dass all seine Komponenten sofort und ohne jeden Widerstand in einen Brei zusammenfallen – gleichzeitig breitet sich im Körper ein Gefühl von Wärme und Weichheit aus, das mich leicht zusammensinken lässt.

Nach diesem Tutti probiere ich die einzelnen Schichten meines Pasteten-Tierchens separat. Die Sauce ist eher wässrig und hat einen ganz leichten Geschmack von angebratenem Fleisch. Die Erbsen sind kalt und nur sanft angedrückt, sie haben ein grasiges und auf angenehme Weise muffiges Aroma. Auch der Kartoffelstock ist kalt und ein bisschen klebrig, hat aber einen reinen Kartoffelgeschmack – ist also weder milchig, noch buttrig oder gar käsig. Dann die Pastete selbst: der Teig ist nicht ganz durchgebacken und weitegehend aufgeweicht, da er sich mit Sauce vollgesogen hat – nur die Seitenwände sind noch etwas knusprig. Aus dem Innern der Pastete quillt ein dunkelbraunes Ragout, das aus waghalsig viel Sauce besteht. Die Rindfleisch-Fleischstücke sind so mürbe, dass sie sich im Mund auch ohne viel Zutun der Zähne auflösen. Das Ragout ist leicht pfefferscharf und schmeckt nach Zimt und Nelken – eher exotisch insgesamt, chinesische Schmorgerichte kommen mir in den Sinn, auch Weihnachtsgebäck. Die exotische Sauce des Ragouts und der aufgeweichte Pasteten-Teig verbinden sich zu einem Schlamm, der etwas Vorverdautes hat und doch Schlucklust auslöst.

Nach dem Essen bleibt im Mund eine würzige Schärfe zurück, die später von einem ganz leichten Nachklang der Hefe, des nicht ganz gebackenen Teiges abgelöst wird.

Der «Tiger» ist ganz bestimmt kein differenziertes Ess-Erlebnis – aber er bietet etwas, dass ich vielleicht am ehesten mit dem Wort «Trost» beschreiben möchte. Auf jeden Fall kann ich mir gut vorstellen, dass der «Tiger» zum Beispiel für einen Marine-Soldaten, der in ein paar Stunden mit seinem Schiff aus dem benachbarten Militärhafen auslaufen muss, eine Art Hand sein kann, die ihm beruhigend über Magen und Gemüt streicht. Der seit Jahrzehnten währende Erfolg des Pasteten-Wunders aus Woolloomooloo jedenfalls rührt sicher daher, dass dieser Turm ganz einfache Worte sagt: «Es ist gut».

«Harry's Cafe de Wheels» bietet seine deftigen Delikatessen seit 1938 an der Cowper Wharf Road in Sydneys Woolloomooloo an. (März 2014)
Aus gesetzlichen Gründen musste «Harry's Cafe de Wheels» früher tatsächlich auf Rädern stehen, um seine Position ab und zu um ein paar Inch verändern zu können. Heute ist der Stand fest verankert und Blumenkisten bilden zur Strasse hin eine schützende Barriere.
Die Theke des Stands ist auch mit zahlreichen Fotos dekoriert, die an all die prominenten Menschen erinnern, die sich hier schon einen «Tiger» zwischen die Lippen geschoben haben (zum Beispiel Frank Sinatra oder Marlene Dietrich).
Der «Tiger» aus der Vogelperspektive – eine grüne Landschaft mit braunem See. (Sydney, März 2014)
Das Innere der Pastete ist erstaunlich flüssig, die Fleischbrocken sind mürbe und eher klein.

First Publication: 7-4-2014

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