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Seraya Dogles (Indonesia)
Auf der Klippe unterhalb des Dorfes
Freitag, 13. Dezember 2013

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Ich fuhr hinter einem Leichenzug her, der sich in der Mittagshitze über einen kleinen Fluss und dann einen steilen Abhang hoch bis zum Verbrennungsplatz mühte. An die fünfhundert Menschen folgten einem vielleicht sechs Meter hohen Turm, dessen goldene Verkleidung im Sonnenlicht funkelte und kleine Blitze auszusenden schien, die über die Dächer der Autos huschten, welche der Prozession geduldig folgten. Immer wieder geriet der Turm ins Schwanken, dann und wann wurde er auch wie eine Kompassnadel in alle Himmelsrichtungen gedreht – dazu schlug ein Gamelan-Orchester einen galoppierenden Rhythmus ins Metall. Vor jedem Haus des Dorfes schmauchte eine getrocknete Kokosnussschale einen dünnen Rauchstrahl in die Luft.

Ich hätte umkehren können, denn ich hatte keinen besonderen Grund, auf dieser Strasse weiterzufahren. Aber etwas hielt mich davon ab. Empfand ich es als unschicklich, mein Auto zu wenden, mich einfach abzukehren? Hätte ich das Gefühl gehabt, vor etwas Unausweichlichem davonzulaufen? Vielleicht fürchtete ich auch nur das Aufsehen, das mein Wendemanöver mitten unter den vielen Menschen auf dieser engen Strasse verursacht hätte – plötzlich hätten sich die Augen der Prozessierenden auf mich gerichtet, statt auf den Sarg.

Irgendwann drehte sich der Leichenturm ein letztes Mal schwerfällig um die eigene Achse – der Verbrennungsplatz war erreicht. Ich fuhr weiter durch den losen Küstenwald in Richtung Osten, ohne eigentliches Ziel. Wieder und wieder führte die Strasse durch kleine Flüsse, deren hell leuchtendes Blau mich an Gletscherseen in den Alpen erinnerte. Kinder spielten in dem Wasser, Männer wuschen ihre schlanken braunen Körper und Jugendliche reinigten ihre Motorräder. In einem der Flüsse hockte auch eine alte Frau. Sie hatte ihr graues Haar geöffnet und liess die Spitzen ihrer schweren Brüste ins Wasser hängen. Sie sass so nahe an der Strasse, dass ihr die Reifen der vorbeifahrenden Autos und Motorräder kleine Fontänen ins Gesicht spritzten. Das schien sie nicht zu stören. Ich fuhr im Schritttempo an ihr vorbei.

Ich bog von der Strasse ab – einfach, um nicht stur weiter zu fahren, und geriet auf einen Weg, der mich in steilen Kurven an Gärten, Hütten und kleinen Bauerhäusern vorbei in Richtung Meer hinab brachte. Ein junger Mann auf einem Motorroller quetschte sich hupend an mir vorbei und fragte, ob ich mich verfahren habe. Ich sagte, dass ich einen schönen Ausblick auf die Küste suche. Er fuhr voraus, ich parkte vor dem Haus seiner Eltern und wir liefen zu seinem Platz über dem Wasser.

Es war ein grüner Garten, in dem Kühe und Ziegen weideten. Am Ende des Gartens wuchsen ein paar Kakteen – und dahinter fiel eine Klippe senkrecht gut hundert Meter zum Meer hin ab. «Wer da runterfällt, ist tot», sagte mein Begleiter – und: «vielleicht wird dein Körper dann nie gefunden». Er machte ein kummervolles Gesicht. In Bali ist es wichtig, dass man ordentlich stirbt – sonst kann die Seele nicht richtig vom Körper befreit werden und irrt herum. Vielleicht sah der junge Mann plötzlich einen zukünftigen Geist in mir, der in seinem Garten herumspuken und das Haus seiner Eltern heimsuchen würde. Er drängte mich von dem Abgrund weg und war dann offenkundig erleichtert. «Ich hatte nicht die Absicht, da runter zu springen», versicherte ich und lachte. Er sagte nur: «Danke».

Siehe auch

  • Ein Rezept zur Episoda: Soto Babi (Würzige Suppe aus Schweinshaxe mit Nudeln und Sellerie-Blättern)
  • Episoda – eine Sendung für Santa Lemusa (Einführung)
  • Biographie von Peter Polter

First Publication: 28-12-2013

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