Wie man eine Landschaft wahrnimmt, hängt stark vom Wetter ab. Es gibt Gegenden, die kann man sich gar nicht ohne strahlenden Sonnenschein vorstellen – andere hingegen sind eisig und kalt oder windig mit einem sich ständig verändernden Himmel. Das Barolo-Gebiet ist dunstig und nebelverhangen. Die sanften Hügel mit ihren endlosen Reihen von Rebstöcken, an denen Dolcetto, Barbera und Nebbiolo reifen, liegen unter einem unbewegten Himmel, aus dem ein leichter Nieselregen zu Boden fällt und auf den prallen Körpern der Trauben zu zahllosen kleinen Spiegeltropfen zusammenläuft. Es riecht nach schwerer feuchter Erde und nach Früchten, die am Boden verrotten. Es ist still, in der Ferne hört man dann und wann ein Auto, das sich wie ein akustischer Bleistiftstrich durch die Landschaft zieht. Das aufgeregte Kreischen von ein paar Elstern, die sich wie immer um etwas zu streiten scheinen, verhallt in den Tiefen des Rebbergs. Eine Glocke schlägt leise ein, zwei, drei Mal – so zaghaft, als wüsste sie selbst nicht, welche Uhrzeit sie verkünden soll. Wer diesen Teil der Langhe einmal so gesehen hat, kann sich kaum vorstellen, dass es hier Sonnenschein geben könnte – oder auch Schnee. Oder anders gesagt: Selbst wenn diese Hügel an einem nächsten Tag unter einem stahlblaueben Himmel stehen – unser Herz wird einen Schleier aus Dunst über sie legen.
Bedeutet dies, dass der Nebel aus unserer Vorstellungskraft kommt? So gut wie die Landschaft selbst wahrscheinlich. Wenn wir Nebel über den Dingen ausbreiten können, dann wahrscheinlich doch auch Sonnenschein. Man könnte sich wundern, warum wir das nicht öfter tun. Aber vielleicht braucht unsere Seele den Nebel und den Regen – sosehr wie sie die Sonne braucht, oder sogar noch etwas mehr.
First Publication: 20-10-2013
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