Am nördlichen Ende der flachen Ebene rund um Poprad faltet sich das Tatra-Gebirge so plötzlich gegen den Himmel auf, als hätte Gott seine Faust auf eine steinerne Tischplatte gedonnert und deren Mitte aufspringen lassen. Im September steigt man hier aus dem sommerlichen Flachland in die ersten Herbstverfärbungen hoch, durchquert eine nasskalte Wolke und findet sich auf einer Höhe von 2000 Metern in einem noch ganz frischen Winter wieder. Der Schnee, der hier nur 20 oder 30 Zentimeter über den Steinen liegt, formt noch keinen eigenen Boden – wie dann wohl später im Jahr. Auf Schritt und Tritt droht man einzubrechen, sich den Fuss zwischen den Steinen zu verstauchen, die sich hier als eigentliche Realität unter dem weissen Schein behaupten. Das verleiht dem Gang eine Zaghaftigkeit – und nimmt der Welt die Selbstverständlichkeit.
Gewöhnlich glaubt der Wanderer zu wissen, auf was für einem Untergrund er unterwegs ist. Weil er davon ausgeht, dass der Boden ihn trägt, kommt es ihm kaum in den Sinn, danach zu fragen. Er nimmt die Umgebung in grossen Zügen wahr, als eine Art Summe oder als eine Wiederholung mit Variationen. Weil es ihm kaum dient, hat der Wanderer kein Auge für Einzelheiten – allen-falls nimmt er dann und wann eine Anekdote, eine besondere Pflanze, eine gefährliche Lücke im Gelände oder die Farbe eines Steines wahr. Doch wenn der Boden dann plötzlich von einem brüchigen Teppich aus Schnee bedeckt ist, will er mit einem Mal um die Beschaffenheit des Untergrundes wissen – und merkt, dass es schwindelerregend viele Möglichkeiten gibt, sich die Erde unter den eigenen Füssen vorzustellen.
Wahrscheinlich sind viele Dinge in unserem Leben nur klar, weil wir nicht nach ihnen fragen müssen. Wie würde sich unsere Wahrnehmung der Welt wohl verändern, wenn über allem dann und wann etwas Schnee zu liegen käme? Und was würde mit unserem Selbstverständnis geschehen, müssten wir uns regelmässig einen Weg durch solches Gelände suchen?
First Publication: 25-9-2013
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