Im Gebirge kommt mir mein Leben manchmal wie ein kleiner Wasserfall vor, der zufällig neben mir her plätschert, über die Granitplatten rieselt, sich zwischen den Steinplatten vergluckst. Natürlich wäre es mir lieber, mein Leben wäre ein mächtiger Wasserfall – ein umgekehrter am besten, eine Wassersäule, eine liquide Erektion. Doch in den Bergen kommt es mir viel öfter einfach nur wenig vor. Gewiss, das hat Tradition: der grosse Berg, der kleine Mensch. Es ist eine Falle. Und natürlich nehme ich das viel zu persönlich – aber ich möchte mich jetzt nicht zur Vernunft zwingen.
Also schaue ich dem Nebel zu, wie er schwer über den Gletschern und Gipfeln hängt. Was für eine plumpe Feuchtigkeit, was für ein müde Behauptung – und doch auch ein körperloser Gestaltwandler, der sich an den Bergspitzen reibt, als seien sie nur zu seinem Vergnügen geschaffen.
Plötzlich stellt sich der Gedanke ein, ich hätte nichts aus mir, nichts aus meinem Leben gemacht. Das wirkt zunächst wie eine Verschärfung der Wasserfalle, als würde das Geplätscher zum Tinnitus – aber es fühlt sich leicht an, fast übermütig. Denn «nichts» ist deutlich attraktiver als «wenig» – «nichts» ist wenigstens konsequent. Mit «wenig» könnte man ja auch zufrieden sein, zufrieden sein müssen. Für «wenig» könnte man sogar dankbar sein, dankbar sein müssen. Für «nichts» braucht man keinem die Hand zu schütteln. Das ist gut – «nichts» ist besser.
Und das Absolute, das in den Bergen ja von Gipfel zu Gipfel gereicht wird, ist es «nichts» denn nicht deutlich näher als «wenig»? Wo «nichts» ist, kann alles sein – «nichts» ist das Gegenteil von «wenig», es ist das total Potenzial, die Implosion der Erfüllung.
Das reicht – mein Grössenwahn ist bedient und mein Kopf wieder in Freiheit gesetzt. Wie ein erregter Nebel reibe ich mich jetzt an allem, was mir nur gefällt.
First Publication: 9-6-2013
Modifications: 22-6-2013