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Logbuch der «PS Narina»

Tag 36

Luft- / Wassertemperatur: 24°C (19°C nachts) / 22°C

Windrichtung / Bft: Südost / 2-3

Gebiet: MAGNA INSULA (das Süsse löst sich im Salzigen auf) – Seekarte der Reise

Kombüse: Sardinen (200 g) filetieren, Schuppen und äusserst Hautschicht mit einem Messer abschaben. Filets in etwas gesalzenem Wasser 2 Minuten köcheln, aus dem Topf heben und abkühlen lassen. Fleisch fein hacken, mit 1 Tasse gehacktem Koriandergrün, 100 g Joghurt, Zeste von 1 Limette, Saft von ½ Limette, Salz, Pfeffer und ein paar Tropfen Tabasco vermischen. Zu Brot und Gemüsestücken servieren. (Weitere  Rezepte vom Smut der «PS Narina»)

Beobachtungen

Die Bewegungen eines Papierbootes sind eine Wissenschaft für sich. Sie werden nicht nur von Wind und Strömung gesteuert, sondern auch von der Form des Bootes bestimmt – und von der Haltung der Passagiere, die sich an Bord befinden. Manchmal erscheinen diese Bewegungen ein wenig verhalten oder unentschieden – ziellos. Dann wiederum führt so ein Boot einen veritablen Tanz auf dem Wasser aus, dreht Pirouetten, nimmt Anläufe, hüpft hin und her als folge es dem Rhythmus einer Musik, den Anweisungen eines Choreographen.

Die Bewegungen eines Papierbootes sind das Resultat von allem, was gerade wirkt – man könnte sie also auch als Ausdruck der Seele des Bootes ansehen oder als seine Sprache. Folgt man den Bewegungen, so scheint so ein Boot viele verschiedene Seelen zu haben, ganz unterschiedliche Sprachen zu sprechen – je nach Laune und Landschaft, durch die es fährt. Auch ich habe verschiedene Seelen, auch mein Körper spricht ganz unterschiedliche Sprachen – je nach Umgebung, in der ich gerade bin, je nach Gegenüber, je nach Aufgabe oder Freundeskreis.

Das Papierboot wird durch Stromschnellen und Wasserfälle, durch Brandungswellen und Windböen von einem Seelenzustand in den anderen gerissen. Ich aber verstehe es, meine verschiedenen Seelenwasser so weit auszugleichen, dass sie wie ein Fluss ohne Katarakte erscheinen, und meine Seelen folglich wie eine Seele aus einem Guss. Nur dann und wann reisst mir etwas ein Gefälle ins Leben – eine Trennung, ein Schmerz, eine Angst. Dann wird an meinen Bewegungen sichtbar, dass da andere Seelen sind, dass andere Tänze getanzt werden wollen.

Warum verwende ich so viel Energie darauf, meine Seelenwasser auszugleichen – geht es darum, irgendeine soziale Form auszufüllen, jemand zu sein? Warum konzentriere ich mich nicht vielmehr darauf, das Rufen oder Klopfen meiner anderen Seelen wahrzunehmen, schnell von einer Seele in eine andere zu schlüpfen, von einer Bewegung in die andere zu gleiten, von einer Sprache in die nächste zu verfallen? Gibt es nicht immer die Möglichkeit, etwas wenigstens ein kleines bisschen anders zu sehen, anders zu tun – auf wiederkehrende Fragen neue Antworten zu formulieren? Oder besser: ein anderer zu sein, der antwortet. Ich bin mehrere – aber ich kenne die Schlupflöcher noch kaum, die mich von mir zu mir bringen. 

Ich möchte nicht nett sein, nicht klug, nicht tapfer und nicht lustig – aber ich möchte wie ein Papierboot sein. Ich möchte mich von allem bestimmen lassen, was gerade wirkt.

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First Publication: 9-4-2013

Modifications: 1-11-2014